9. September 2008

Die letzte Bahnfahrt.


Das Signal blinkt, die Bahn fährt ab.
Ich schaue dem Zug hinterher, bis er im Dunkel der Nacht verschwindet.
Ich stehe neben einer gelb leuchtenden Bahnsteigslaterne mit dem Rücken
zum Fahrscheinautomaten und schaue auf das zerfallende Bahnhofshäuschen
auf der anderen Seite der beiden Gleise.
Das Gebäude hat risse in der Wand, die Fenster der Außenschalter sind
provisorisch mit Klebeband und Karton geflickt - ich nehme an, die
Scheiben wurden eingeschlagen oder anderweitig beschädigt - die Türen
sind verriegelt, sei es nun durch die Holzlatten oder die rostige Kette.
An den quittenfarbenen Wänden prangen Parolen und kunstlose Tags.

Im Obergeschoss brennt Licht und aus dem offenen Dachfenster schallen
vertraute Geräusche eines Werbeblocks im Fernsehen. "Sehen sie jetzt! -
Der Blockbuster am-" Wie gewohnt. Aus dem Dachfenster blitzen Lichter
sämtlicher Farben und ich frage mich, wie man sich freiwillig einem so
hektischen Farbblitzwechsel aussetzen kann - überhaupt; was muss ein
Mensch für Probleme haben, sich andauernd diesen Scheiß aus der Glotze
geben zu müssen? Dadurch ändert sich für einen doch nichts - rein gar nichts!
Man macht dazwischen einfach weiter, womit man aufgehört hat. Man hat
bloß Zeit verloren, die Dinge zu tun, die man eigentlich wirklich von
sich heraus tun möchte. Stattdessen setzt man sich vor die Flimmerkiste
und schaut zu. Man bekommt alles vorgekaut und vor den Latz gekotzt.
Man sollte weder versuchen, die Welt in einen Kasten zu quetschen, noch
sie darin zu suchen. Viel eher sollte man die Dinge selbst erleben gehen.

Eben fuhr die vorletzte Bahn ab. Warum ich nicht eingestiegen bin?
Ich möchte die letzte Bahn nehmen. Mit der letzten Bahn dieser Nacht
fahre ich hinaus und gehe die Dinge selbst erleben. Man muss und will
im Leben mehr als nur Fern gesehen haben. Heute Nacht wird für mich eine
Bahnfahrt zum ersten Mal das Ziel und nicht der Zweck sein. Durch die
zerkratzten Scheiben möchte ich die Welt sehen - denn im Gegensatz zu
Straßen und Autobahnen bieten die meisten Bahnstrecken einen Wunderbaren
Ausblick auf dieses Jammertal.

Durch die Scheiben eines Zuges sieht man ebensoviel Landschaft und Bäume
wie Vororte und Hauptbahnhöfe. Man sieht Menschen, und man beobachtet sie
und erörtert in Gedanken ihre Herkunft, ihre Intention, ihr Ziel.
Man merkt sich ihre Gesichter und schaut jede Haltestelle, wer aussteigt.
Manchmal warten Menschen auf sie. Draußen auf dem Bahnsteig werden sie
umarmt, geküsst und anderweitig begrüßt. Oder sie hetzen gedankenlos aus
dem Zug hinaus und sprinten die Treppe hinab um zum nächsten Gleis zu kommen.
Menschenmassen drücken sich mit ihren Koffern durch Menschenmassen, die
natürlich zurückdrücken, ein Strom entsteht nie wirklich. Sie drücken und
drücken, z.B. in Fahrstühlen. Jeder trägt dieses "Komm-mir-nicht-zu-nahe!"-
Gesicht und sobald die Aufzugtür aufspringt, fangen sie an zu drücken.

Gibt es denn niemand, der in dieser rastlosen Welt konsequent ruhig bleiben
will oder kann? Auch an einem Bahnhof mit einem Lächeln herumschlenkern,
mit der nötigen Eile, aber ohne zu hetzen? Es ist doch so herrlich, das
Bahnfahren. Wer meint, in Bahnen nicht mehr aus dem Fenster schauen zu
müssen, der muss wohl davon überzeugt sein, es mit Fernsehen nachholen zu
können. Dabei ist es doch so viel eigener, so viel freier, die Welt an sich,
wie sie ist, zu beobachten, zu erfühlen, zu erschließen. Ganz ohne Worte und
anderen Reizzusätzen. Einfach dasitzen und schauen. Und staunen. Staunen
über die Welt, so ganz unselbstverständlich.

Ich führe mir all die Menschen vor Augen, die den Blick für das Wirkliche,
für das Wahrhaftige, das Echte verloren haben, und mit dem Genießen und
Erleben wählerisch geworden sind. All diejenigen, die in der Bahn alle zehn
Minuten auf die Uhr blicken oder versuchen, zu schlafen, um möglichst wenig
von der ach so ätzenden und langweiligen Fahrt mitzubekommen.
Und ich beginne, die Leute zu verachten.
Bin ich ihnen eigentlich voraus mit meiner Erkenntnis?
Oder hinke ich ihrem proklamierten "Fortschritt" hinterher?

Ich frage mich, ob die Welt wohl heilbar ist.
Wie soll ich sie davon überzeugen, öfters mal die Klappe zu halten und
stattdessen einfach mal zuhören, lauschen, beobachten. Ich will ihnen
beibringen, mit dem Schweigen eine Aussage zu machen, mit der Ruhe Stärke
zu beweisen und die Harmonie zu erlernen.
Aber ich bin ehrlich zu mir. Ich mache mir ja sonst immer Hoffnungen,
aber hier muss ich mich geschlagen geben. Wenn man es mit den Menschen
gut meint, jagen sie einen davon. Man kann nur gegen sie gewinnen,
doch niemals, niemals mit ihnen zusammen. Das Vorhaben, die Leute besser
machen zu wollen, ihnen zu helfen, den Weg zu zeigen - Vergebens!
Man hat schon von vornherein verloren.
Kapitulation!

Ich höre, wie die Gleise surren, dann das Rauschen des näher kommenden Zuges.
Wie ein Brüllen klingt es, als der Zug ganz schnell und ganz nah an mich
herankommt. Ohne Anlauf hüpfe ich vom Bahnsteig auf die Gleise.
Der Zug trägt mich fort.
Das letzte, was ich sehe, ist das offene Dachfenster, aus dem bunte Lichter schimmern.


Z.

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