19. April 2008

Die Schildkröte

Und nun schreibe ich doch über dich.
Sie öffnete das Fenster.

Durch den Spalt drang augenblicklich frische Frühsommerluft, die der Wind von Süden brachte. Langsam und genüsslich sog sie den Hauch durch ihre Nase ein. Tief in ihr begann dieser Atemzug zu blühen.
Sie kippte die Flügel bis zum Anschlag und trat vor, um sich so weit wie möglich aus dem Rahmen zu lehnen, wozu sie auf der Fensterbank, auf der sie sich mit beiden Händen abstützte, Platz nahm und ihre Füße leicht über dem Zimmerboden baumeln ließ, während sie ihren Kopf in die Ferne neigte.

Sie schloss die Augen.

Die Linden vor dem Haus dufteten mild und die warme Luft ließ den Geruch bis zu ihrem Fenster hoch steigen. Die Sonne schien sanft auf ihre Schulter.

Sie lächelte.

Was er wohl gerade tut?
Vielleicht sollte ich ihm schreiben?

Nachdem sie noch einige Gedanken lang im Fenster saß und die Gegebenheiten genoss, stieg sie wieder zurück ins Zimmer und öffnete den Sekretär.
Sie nahm zwei Bögen Papier, stellte ihr Tintenfass daneben und suchte die goldene Feder für den Ebenholzfederhalter, in dem ihre Initialen eingraviert waren. Ein Geschenk.

Sie runzelte die Stirn.

Nach kurzem Überlegen nahm sie noch einen dritten Bogen und verlegte ihr Vorhaben vom Sekretär auf die Fensterbank. Dort saß sie noch einige Minuten bis sie schließlich den Entschluss fasste

Heute nicht.

Sie packte ihre lederne Umhängetasche und stürmte
die Treppen hinab, aus dem Haus, hinaus.

Sie rannte.

Erst die Allee entlang und dann in eine Seitengasse, von wo sie durch einen schmalen Pfad an einem kleinen Tümpel vorbeikam. Als sie sich ganz im Schutz des Blätterdachs befand, verringerte sie ihr Tempo.

Sie spazierte.

Vorsichtig stapfte sie durch das Geäst und wich den kleinen Pflänzchen am Boden aus, um sie nicht zu zertreten. Die Vögel sangen ihr Lobeslied an den Lebensgott, seine Präsenz war in den Tiefen des Waldes deutlich spürbar.

Sie stoppte.

Der Weg endete an einem Ufer und sie entschied, rechts am Ufer entlang den kleinen See zu umrunden. Alles war so friedlich, so herrlich, und es gehörte nur ihr, der Augenblick war ungeteilt, sie allein fühlte, was niemand anderes sonst nun fühlte, sie atmete tief ein, mit einem Lächeln fügte sie ihrem Schritt einen leichten Schwung zu, der sie tänzelnd auf einen üppigen, abgebrochenen Ast springen ließ. Die Sonne strahlte ihr direkt ins Gesicht, sie schloss reflexartig ihre Augen, ohne ihr Lächeln zu verlieren.

Sie streckte ihre Arme weit aus.

Als wollte sie den ganzen Wald umarmen, in seiner Hut fühlte sie sich gänzlich frei. Frei von Furcht, frei von Zweifel, frei von allerlei, was ihr das Leben unter ihren Artgenossen so unerträglich, fast unmöglich machte.

Was er wohl gerade tut?
Vielleicht sollte ich ihm schreiben.


Z.

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